Das Tiefenlager – Endstation für radioaktiven Abfall
Ob mit dem Bau des Gotthardtunnels oder des neuen Basistunnels im Rahmen der NEAT – die Schweiz ist bekannt für grosse Infrastrukturprojekte im Untergrund. Nun steht der Bau des nächsten «Jahrhundertwerks» bevor. Dabei handelt es sich aber nicht um einen Tunnel zum Transport von Personen und Gütern, sondern um das geologische Tiefenlager für die langfristige Entsorgung radioaktiver Abfälle. Das Projekt benötigte viel Vorlaufzeit: Die zuständige «Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle» (Nagra) besteht bereits seit über 50 Jahren. Ihr Auftrag ist es, einen geeigneten Standort für ein Tiefenlager zu finden, dieses zu planen und zu realisieren. Nach langjährigen geologischen Abklärungen hat die Nagra 2022 bekannt gegeben, dass sie die Region «Nördlich Lägern» im Norden des Kantons Zürich als sichersten Standort in der Schweiz beurteilt. Im Herbst 2024 soll nun das Rahmenbewilligungsgesuch für den Bau des Tiefenlagers beim Bund eingereicht werden.
Warum braucht es ein Tiefenlager?
Seit den 1960er-Jahren betreibt die Schweiz Kernkraftwerke zur Stromproduktion. Dabei entstehen hochradioaktive Abfälle in Form von abgebrannten Brennelementen sowie schwach- und mittelaktive Abfälle aus dem Betrieb und der Stillegung der Kraftwerke. «Auch in der Industrie, in der Medizinalbranche und in der Forschung kommen radioaktive Stoffe zum Einsatz», erklärt Nagra-Kommunikationsmanager Adrian Uhlmann. «Der dabei entstehende Abfall ist grossmehrheitlich schwach- und mittelaktiv.»
Heute werden alle radioaktiven Abfälle hierzulande ins eigens dafür eingerichtete Zwischenlager Würenlingen gebracht. Die hochaktiven Abfälle bleiben dort 30 bis 40 Jahre, damit die Wärmeabgabe abklingen kann. Für die weniger strahlungsaktiven Abfälle kann mit dem Zwischenlager die Zeit bis zur Inbetriebnahme des Tiefenlagers überbrückt werden. Wie viel radioaktiver Abfall insgesamt langfristig gelagert werden muss, lässt sich gemäss der Nagra ziemlich genau berechnen (siehe Grafik). Das Volumen der hochaktiven Abfälle entspricht mit 9300 m³ etwa jenem von acht Einfamilienhäusern.
Bis die Radioaktivität der Abfälle auf ein für Mensch und Umwelt ungefährliches Niveau gesunken ist, vergehen je nach Abfalltyp Hunderte, Tausende oder Zehntausende von Jahren. Eine Lagerung über derart lange Zeiträume muss an einem Ort erfolgen, der unabhängig von politischen, gesellschaftlichen, klimatischen und technischen Entwicklungen eine hohe Sicherheit bietet. «Die Schweiz setzt dafür wie viele andere Staaten auf ein sogenanntes geologisches Tiefenlager», sagt Uhlmann. Damit bezeichne man eine unterirdische Lagerstätte in einer geeigneten Gesteinsschicht mehrere Hundert Meter unter der Oberfläche.
Wie findet man den richtigen Ort?
Entscheidende Kriterien für die Standortwahl waren primär geologische Aspekte und die Betriebssicherheit. Ab 2008 wurden dazu in der ganzen Schweiz verschiedene Gesteinsschichten untersucht, um infrage kommende Gebiete zu ermitteln. Schrittweise schloss man ungeeignete Gebiete aus, bis noch sechs Standorte im Rennen waren. 2018 erteilte der Bund der Nagra den Auftrag, drei davon näher zu untersuchen: Jura Ost, Nördlich Lägern und Zürich Nordost. In all diesen Gebieten gibt es eine geeignete Schicht Opalinuston, der als sicherste Gesteinsschicht in der Schweiz gilt.
2022 schlug die Nagra schliesslich aus folgenden Gründen das Gebiet Nördlich Lägern als Standort für das Tiefenlager vor:
- Qualität: In Nördlich Lägern ist die Distanz zwischen dem Opalinuston und wasserführenden Schichten am grössten. Bei Probebohrungen fand man zudem heraus, dass das in den Poren der Schicht befindliche Wasser älter ist als bei den anderen Gebieten. Das lässt darauf schliessen, dass der Opalinuston in diesem Gebiet eine wirksame geologische Barriere darstellt.
- Stabilität: Der Opalinuston muss die radioaktiven Abfälle in mehreren Zehntausend Jahren noch ebenso sicher einschliessen wie heute. Daher muss sichergestellt sein, dass auch künftig natürliche Einflüsse wie Erosion durch Gletscher oder Flüsse die geologische Barriere nicht gefährden. In Nördlich Lägern ist die Langzeitstabilität am grössten, auch weil der Opalinuston verhältnismässig tief liegt.
- Flexibilität: Der Untergrund in Nördlich Lägern bietet den grössten zusammenhängenden Bereich ohne grössere Störungen (Risse oder Deformierungen im Gestein), sodass die Flexibilität für die Platzierung des Lagers innerhalb des Opalinustons am grössten ist.
Insgesamt hat das Gebiet Nördlich Lägern der Nagra zufolge die grössten Sicherheitsreserven und eignet sich damit am besten für das Tiefenlager.
Wie soll das Tiefenlager aussehen?
Das Tiefenlager besteht aus drei Bereichen: Einrichtungen an der Oberfläche, Anlagen im Untergrund sowie Schächte oder Rampen, um diese zu erschliessen. Das eigentliche Lager im Untergrund besteht aus verschiedenen Stollen, die in Teilbereiche zusammengefasst werden. «Die Länge der Bauten im Untergrund wird insgesamt rund 43 Kilometer betragen», erklärt Uhlmann. «Dafür benötigt das unterirdische Lager eine Fläche von gut zwei Quadratkilometern respektive 280 Fussballfeldern.»
Das Tiefenlager im Video
Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Abfälle in den Untergrund zu bringen: Zum Beispiel über einen Lift oder über eine Rampe, die sich mit einem Pneufahrzeug oder einer Zahnradbahn befahren lässt. Beide Varianten sind im Bergbau erprobt und auch in anderen Tiefenlagerprojekten vorgesehen, beispielsweise in Frankreich, Finnland und Schweden. Im Untergrund deponiert man die Abfälle dann in den vorgesehenen Stollen und verfüllt diese mit Bentonit – einem Tongranulat, das als zusätzliche Schutzbarriere wirkt. Fertig befüllte Stollen werden versiegelt, der Zugang zum Untergrund bleibt aber während einer Beobachtungsphase noch offen. Erst wenn der praktische Nachweis erbracht ist, dass das Tiefenlager die erforderliche Langzeitsicherheit bietet, kann das Tiefenlager endgültig verschlossen werden. Diesen Entscheid wird ebenfalls der Bundesrat treffen.
Wie funktioniert das Tiefenlager langfristig?
Das Gesetz gibt vor, dass man die Abfälle auch in ferner Zukunft bei Bedarf wieder aus dem Tiefenlager zurückholen können muss. Bis zum Verschluss des Lagers wird das auf relativ einfache Weise möglich sein, danach ist der Aufwand grösser. «Die Rückholung funktioniert vereinfacht gesagt wie die Einlagerung – nur in umgekehrter Richtung», sagt Uhlmann. Ob eine Rückholung sinnvoll sei, müssten künftige Generationen beurteilen. Klar ist, dass das Lager nach dem Verschluss passiv sicher sein wird, also ohne menschliches Zutun.
Die langfristige Sicherheit ergibt sich aus den geologischen Begebenheiten, denn im Untergrund steht die Zeit praktisch still. In geologischen Massstäben sind eine Million Jahre eine überschaubare Zeitspanne: Der Opalinuston entstand bereits vor ungefähr 175 Millionen Jahren in der Jurazeit.
Wie geht es weiter mit dem Tiefenlager?
Im November 2024 wird die Nagra beim Bundesrat das Rahmenbewilligungsgesuch einreichen. Darin begründet sie, warum sich das Standortgebiet «Nördlich Lägern» am besten für ein Tiefenlager eignet. Zudem werden die Grundzüge des Projekts festgelegt, zum Beispiel die ungefähre Lage und Grösse der Anlagen an der Oberfläche. Der Bundesrat entscheidet dann bis voraussichtlich 2029, ob die Rahmenbewilligung erteilt wird. Dazu muss aus seiner Sicht der Schutz von Mensch und Umwelt sichergestellt sein. Anschliessend braucht es auch die Zustimmung des Parlaments und – sofern das Referendum ergriffen wird – der Schweizer Stimmbevölkerung.
Wird das Projekt bestätigt, kann ungefähr 2035 mit dem Bau der ersten Anlagen begonnen werden. «Heute gehen wir davon aus, dass etwa 2050 das Lager für die schwach- und mittelaktiven Abfälle bereitsteht und gut 10 Jahre später dasjenige für die hochaktiven Abfälle», erklärt Uhlmann. Es wird also noch einige Jahrzehnte dauern, bis das Tiefenlager vollständig in Betrieb genommen werden kann.